Biblische Weisungen zur Homosexualität?

Plädoyer für einen vernünftigen Umgang mit der Schrift

von Prof. Dr. Theol. Michael Theobald, Tübingen

Bei Gesprächen über die Frage, wie christliche Kirchen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in ihrer Mitte begegnen sollten, bekommt man immer wieder das Argument zu hören:

»Aber! In der Schrift steht doch ... !« Und dann endet die Bereitschaft zur Verständigung zumeist.

Ein biblizistischer Umgang mit der Schrift mag inzwischen bei vielen Problemfeldern, z.B. dem der Schöpfungserzählungen bzw. weltbildlichen Aussagen der Schrift, obsolet geworden sein - aus dem Fall Galilei hat man gelernt! -, doch bei ethischen Streitfragen wie der hier vorliegenden scheinen die andernorts mühsam eingeübten Umgangsweisen mit der Schrift noch nicht recht zu greifen. Dabei kommt es auch bei Texten des Alten und Neuen Testaments, wie sie üblicherweise zum Thema »Homosexualität« herangezogen werden, entschieden darauf an, ihre kulturgeschichtliche Prägung zu sehen sowie genau darauf zu achten, was denn tatsächlich in ihnen verhandelt wird, um nicht in die Falle des eigenen Vorverständnisses zu tappen.

Denn es ist ja denkbar, daß diese Texte unsere Probleme gar nicht haben- auch weil der heutige anthropologische Wissensstand ein ganz anderer ist als der ihre -und sie uns deshalb gar nicht weiterhelfen können.

Und in der Tat dürfte hier ein solcher Fall gegeben sein, wo uns die Schrift nach ihrer sorgfältigen Lektüre wieder entläßt und uns zumutet, ethische Perspektiven - humanwissenschaftlich fundiert - eigenverantwortlich zu entwerfen und sie im Licht des Glaubens an den Gott Jesu (also läßt die Schrift uns doch nicht ganz allein!) im pastoralen Alltag der Kirche zu erproben.

Doch schauen wir genauer hin!

Insgesamt sind es nur sehr wenige Texte, die in Frage kommen. einen umfassenden Überblick bietet zuletzt: M. Stowasser, Homosexualität und Bibel: NTS 43 [1997] 503-526).

Von lesbischer Liebe ist nirgends, weder im Alten noch im Neuen Testament die Rede (wohl auch nicht in Röm 1,26), was gewiß mit der androzentrischen Perspektive der Texte zu tun hat.
Im Neuen Testament findet Homosexualität nur im paulinischen Schrifttum Erwähnung, doch scheidet bereits der traditionelle Lasterkatalog 1 Kor 6,9f. mit seiner spezifischen Thematik der Päderastie (Knabenliebe) (vgl. dazu K. Hoheisel, Art. Homosexualität: RAC 16 [1994] 289-364: 299ff.) im Blick auf die heute virulente Frage nach homosexuellen Partnerschaften in der Kirche aus: »Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzenanbeter noch Ehebrecher noch Lustknaben (Strichjungen ?) und Knabenschänder ... werden das Reich Gottes erben«.

Ganz abgesehen von der schwierigen Frage, an was Paulus hier genau denkt (der zweite Terminus, arsenokoitai, ist übrigens ein Neologismus im Anschluß an Lev 118,22; 20,13), von einer pauschalen Verwerfung homosexuellen Verkehrs kann bei diesem Vers nicht die Rede sein, ebensowenig in 1 Tim 1,10.

Anders sieht die Sachlage bei Röm 1,27 aus, einem Vers, der zusammen mit dem ziemlich umstrittenen V.26 zur einer Art prophetischer Gerichtsrede gehört (Röm 1,18-32), in der Paulus die Schuldverfallenheit aller Menschen, zunächst der aus der heidnischen Welt, aufdeckt und an typischen Signalen sittlichen Niedergangs (jedenfalls aus jüdischer Optik) exemplifiziert. Kontext und Pragmatik der fraglichen Verse dürfen nicht unberücksichtigt bleiben, denn es ist ja zumindest auffällig, daß Paulus gerade nicht im paränetischen Teil seines Briefes (Röm 12ff.) auf dieses Thema zu sprechen kommt, sondern an dieser Stelle. Ein »pastorales Problem« in der Gemeinde scheint Homosexualität für ihn also nicht gewesen zu sein.

Warum dann aber gerade in Röm 1?

Die Pointe seiner Argumentation ist hier - das wird aus dem Zusammenhang mit den folgenden Kapiteln deutlich! - der Angriff auf eine Position, die Israel als Insel des Heils von der heidnischen Verlorenheit abgrenzen möchte. Die Plausibilität dieser eigenartig distanziert in der dritten Person von den Verfehlungen der Menschen und deren gerechten Folgen berichtenden Rede ist also für einen jüdisch denkenden Gesprächspartner berechnet. Dieser kann den Ausführungen in 1,18-32 nur beipflichten, da Paulus die Situation der Menschheit entsprechend seiner eigenen religiösen Herkunft ganz aus irdischer Perspektive als hoffnungslose Situation der Anderen, d.h. der Heiden, darstellt.

Daß er damit aber etwas im Schilde fährt, wird der aufmerksame Hörer bereits daran erkannt haben, daß Paulus in 1,18 das Wort »Heiden« vermeidet, um statt dessen viel grundsätzlicher von »Menschen« zu sprechen. In 2,1 dreht der Apostel dann den Spieß um und behaftet den, der seiner Gerichtsrede Beifall zollt, bei seinem eigenen Urteil, das er auch sich selbst gesprochen hat.

Im Gegensatz zur Sicht jüdischer Apokalyptiker weigert sich Paulus ja gerade, eine Scheidung der Menschheit in Fromme und Gottlose mitzumachen: »es gibt keinen, der gerecht ist, auch nicht einen« (3,10!).

Die Diagnose des Zustandes der (heidnischen) Menschheit entwickelt der Apostel aber nun nicht einfach aus dem christologischen Heilsbekenntnis. Vielmehr macht er den Aufweis, daß der Mensch ohne den Heilszuspruch des Evangeliums rettungslos verloren ist, an bestimmten Symptomen fest, die diesen Zustand für ihn und seine Adressaten sozusagen »objektiv« erkennen lassen. Das Phänomen Homosexualität beispielsweise interpretiert Paulus mit Hilfe des auch von ihm vertretenen jüdischen Grundsatzes der adäquaten Vergeltung, nach welchem jedes Tun ein bestimmtes Ergehen zur Folge hat (»Tun-Ergehen-Zusammenhang«), als Symptom des heidnischen Götzendienstes.

Entsprechend heißt es in unserem Text: Weil sie den Schöpfer mit seinen Geschöpfen »vertauschten«, überließ dieser sie der "Vertauschung" ihrer Sexualität.

Weil also die Menschen die Schöpfung anstelle des Schöpfers anbeteten - »deshalb hat Gott sie entehrenden Leidenschaften preisgegeben: ihre Frauen vertauschten den natürlichen Umgang mit einem solchen gegen die Natur (para physin), und desgleichen gaben die Männer den natürlichen Umgang mit der Frau auf und entbrannten in ihrer Gier zueinander, so daß Männer mit Männern Unzucht trieben und den gebührenden Lohn für ihre Verirrung erhielten« (Röm 1,26£).

Daß Paulus in V.26 von lesbischer Liebe sprechen soll - so die durchgängige Deutung -, verwundert angesichts der Tatsache, daß das Alte Testament nirgends gegen sie Stellung bezieht und auch das Frühjudentum sie kaum einer Erwähnung für notwendig erachtet. Zudem irritiert, daß die Rede vom natürlichen Umgang der Frauen in V.26 der bei jener Deutung zu erwartenden Präzisierung »mit Männern« entbehrt (anders V.27!), so daß sich die Frage stellt, was denn hier unter »natürlich« bzw. »gegen die Natur« wirklich zu verstehen ist.

Ein plausibler Vorschlag aus jüngerer Zeit vgl. v.a. J.E. Miller, The Practices of Romans 1,26: Homosexual or Heterosexual?: NT 37 [1995] 1-1 1; R.B. Ward, Why Unnatural? The Tradition behind Romans 1: 26-27: HTHR 90 [1997] 263-284) will beide Verse in einer bei Platons Schöpfungsmythos Timaios, vgl. auch Leges 636c u.ö.anknüpfenden jüdisch-hellenistischen Tradition verorten, die die »Natur« der geschlechtlichen Vereinigung an der Zeugung neuen Lebens festmacht und dies auf dem Hintergrund des platonischen Leib-Seele-Dualismus mit einer anti-hedonistischen Frontstellung verbindet. Und in der Tat spricht manches für diese Lösung, denn das Schöpfungsargument besitzt in der durchgängig mit jüdischen Denkmustern operierenden Rede Röm 1,18-32 eine grundlegende Bedeutung (vgl. 1,19f.25).

V.26ff würden danach besagen: Frauen vertauschen den natürlichen Gebrauch ihrer Sexualität mit einem »gegen die Natur«, wenn sie nicht-koitalen Geschlechtsverkehr im Dienst der Empfängnisverhütung praktizieren, und Männer verstoßen »gleicherweise« (V.27) gegen den ausschließlich in der Fortpflanzung liegenden Sinn von Sexualität, wenn sie sich homosexuellen Praktiken zuwenden.

Dies wird auch durch die Wortwahl bestätigt. Paulus spricht nämlich in 1,26£ nicht von »Frauen« und »Männern«, sondern verwendet Termini, die einseitig das Geschlechtliche betonen und den Akzent auf Fortpflanzung und Gebären legen (theleiai und arsenes, vgl. Gen 1,27; 5,2 LXX; Mk 10,6 = Mt 19,4; Gal 3,28).

Kann der so verstandene Text zur heutigen Diskussion überhaupt noch etwas beitragen?

Das scheint ausgeschlossen.

Denn ganz abgesehen davon, daß die gegenwärtige Theologische Ethik menschliche Sexualität in einem ganz anderen Sinne personal-ganzheitlich differenziert zu würdigen versteht, als dies die klassische Ehe-Zweck-Lehre vermochte, kann doch nicht übersehen werden, daß V.26 (»sie vertauschten ... «) homosexuellen Praktiken die Qualität entschlußhafter Abkehr vom »natürlichen Umgang mit Frauen« zuschreibt und sie von daher als willentlichen Verstoß gegen dein Schöpfer, also als Sünde begreift, was nicht dadurch aufgehoben wird, daß Paulus derartige Praktiken im Kontext gleichzeitig auch mit der Kategorie der »Strafe« belegt (»Gott hat sie an ihre unehrenhaften Leidenschaften ausgeliefert .«).

Als Sünde gilt Homosexualität auch in den Bestimmungen des »Heiligkeitsgesetzes« Lev 18,22; 20,13 (den einzigen einschlägigen Weisungen der Tora, die im übrigen mit ihrer Androhung der Todesstrafe [20,13] eine unheilvolle Wirkungsgeschichte gegen sich haben!), wobei sie nicht mit letzter Sicherheit zu erkennen geben, ob sie sich gegen Formen von männlicher Kultprostitution oder (wahrscheinlicher) gegen Homosexualität allgemein wenden.

In der griechischen Tradition wußte man demgegenüber mitunter auch um die Möglichkeit von auf Veranlagung beruhender Homosexualität; z.B. spricht Aristoteles, Nikomachische Ethik 7,6,1148b, von der Päderastie, »zu der den einen die Neigung von Natur anhaftet, den anderen, z.B. solchen, die von Jugend auf mißbraucht worden sind, infolge der Gewohnheit«.

Eine derartige Einsicht kommt heute in ganz neuer Weise als von der Heiligen Schrift her nicht mehr zu bewältigende humanwissenschaftliche Herausforderung auf die Theologische Ethik zu:
Gibt es wirklich irreversible gleichgeschlechtliche Veranlagungen bzw. Ausprägungen solcher Veranlagungen aufgrund bestimmter Sozialisationsfaktoren, wie Psychologie und Sozialwissenschaft nahelegen, dann können diese theologisch nur als Modifikationen der Sexualität als Schöpfungsgabe begriffen werden.
In jedem Fall ist aber von einem Gebrauch der Deutungskategorien der Gerichtsrede Röm 1 wie »Sünde« und »Strafe« bei den hier zu verhandelnden Fragen in aller Entschiedenheit Abstand zu nehmen.

Läßt uns dann aber die Heilige Schrift mit unseren Fragen heute ganz allein?

Ich meine nicht!

Das ekklesiologische Grundprinzip des Paulus lautet: »Nehmt einander an, wie auch Christus euch zur Ehre Gottes angenommen hat!« (Röm 15,7).
Im kirchlichen Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften steht dieses Grundprinzip gewiß auch auf dem Prüfstand. Wo, wenn nicht zuerst in den Gemeinden, die sich auf den Namen Jesu von Nazareth berufen, sollte erfahrbar werden, daß Gott vorbehaltlos jeden Menschen liebt?

Geben wir also mit der Heiligen Schrift vernünftig um und hören wir auf das, worin sie uns wirklich in Pflicht nimmt - um unseres Heiles willen!

Michael Theobald

Zum Autor:

Dr. theol. habil Michael Theobald, geb. 1948 in Köln,
Prof. für neutestamentliche Exegese an der Kath.-theol. Fakultät der Universität Tübingen, Liebermeisterstraße 12, D-72076 Tübingen.
Veröffentlichung u.a.: Römerbrief (SKK. NT 6/1-2), Stuttgart 1992.

Quellenangaben:

aus: WORT UND ANTWORT. Zeitschrift für Fragen des Glaubens. 
Themenheft Homosexualität. 39. Jahrgang, Heft 2 - April/Juni 1998
Herausgegeben von der Dominikanerprovinz Köln.
Matthias-Grünewald-Verlag Mainz - Copyright beim Verlag.

Internetveröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion und des Verlages.