Pater Korbinian Roth

Korbinian Leonard Roth OP (1904 - 1960)
und die „Sittlichkeitsprozesse” gegen Priester
und Ordensleute in der NS-Zeit

von P. Dr. Paulus Engelhardt OP

 

Geboren wurde Josef Leonhard Roth am 27.5.1904 in Saldenburg bei Passau (Niederbayern).

Leonhard wurde am 26.9.1924 als fr.Korbinian in der Ordensprovinz Teutonia des Dominikanerordens eingekleidet und wurde am 4.8.1931, am Dominikusfest, in Köln Hl. Kreuz zum Priester geweiht. In Köln übernahm er wohl bereits die Leitung des »Thomaskreises für Jungakademiker« im Rahmen des Katholischen Akademikerverbandes.

In diesem Zusammenhang führte die Gestapo den charismatischen Redner unter den »inländischen Gegnern« des NS auf. Dem Akademikerverband wurden vor allem »personelle Verbindungen zum (im Sommer 1933 aufgelösten) Friedensbund deutscher Katholiken« angelastet. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg unterstellte P. Korbinian, den er zu den »sonst sehr vorsichtigen Leuten« zählt, aufgrund einer Kölner Rede über den hl. Dominikus vom Januar 1935 den Anspruch der Priesterherrschaft über die Welt (An die Dunkelmänner unserer Zeit, 1935).

Bereits im November 1935 wurde der 31jährige zum Prior des großen und aufstrebenden Studienkonventes Walberberg gewählt. Er dokumentierte den Geist des Konvents zusammen mit Dozenten der jüngeren Generation mit einer gleich publizierten Vortragsreihe »Gottes Geist in Gottes Reich«.

Das Buch wurde aber bald vom Buchhandel zurückgezogen - aufgrund der folgenden Ereignisse.

Januar 1937 war ein dramatischer Monat. Der Provinzial Laurentius Siemer berichtete im nicht veröffentlichten Teil seiner Erinnerungen, er habe während seiner Visitationsreise im chinesischen Missionsgebiet (von Anfang bis Juni 1937) einen Brief vom Prior von Walberberg (ohne Namensnennung) erhalten, in dem dieser ihm im Namen mehrerer Mitbrüder vorwarf, »die nationalen Empfindungen« seiner Mitbrüder verletzt zu haben. Dieser Brief hat sich nicht finden lassen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine ordensinterne Opposition gegen seinen autoritären Führungsstil. Siemer aber deutete diese »Untergrundbewegung« als Kritik seiner NS-kritischen Haltung und die Haltung der Kritiker als NS-freundlich. Wenn der Brief vom Prior abgeschickt wurde, müßte das Ende Dezember 1936 (nachdem Siemer zu seiner Reise aufgebrochen war) oder Januar 1937 gewesen sein.

Der Flame Raymund van Sante OP, der in Walberberg theologische Ethik dozierte und an der genannten Veranstaltung mitgewirkt hatte und von Siemer als der Anstifter gegen ihn angesehen wurde, erinnerte sich in seinem Tagebuch aus der Klosterhaft in Huissen (Siemer hatte ihn in die niederländische Ordensprovinz, von der er für Walberberg ausgeliehen war, zurückgeschickt) am 23.1.1938, wie sich vor einem Jahr Korbinian einer Waldwanderung einiger befreundeter Dominikaner angeschlossen hatte. »Seitdem sahen wir ihn nie wieder. Es war der Anfang der großen Tragik. Armer Bruder, ich will dich nicht anklagen. Gott möge dich führen und retten.« Die »Tragik« wurde von der Gestapo in dem Nebensatz erwähnt: »... der sich seiner Verhaftung wegen Vergehens gegen § 175 St.G.B. durch seine Flucht nach Paris entzogen hat«.

Nach Weihbischof Neuhäusler (20.1.1962) floh er am 29.1.1937 »Hals über Kopf aus Deutschland« - und zwar nicht nach Paris, sondern in die Schweiz. Durch einen aus Paris abgesandten Brief an den Provinzial täuschte er auch die Gestapo.

Lt. Neuhäusler fahndete die Kriminalpolizei nach ihm. Spätestens aber am 6.2.1937 fahndete die Geheime Staatspolizei, Sonderreferat - Kdo. Koblenz - in Walberberg nach seinen Unterlagen. Am 16.7.1937 soll eine Anzeige wegen »sittlicher Verfehlungen« ergangen sein. Am 3.9.1937 wurde Roth vom Landgericht Bonn wegen Verstoßes gegen § 175 StGB zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Die später aufgeworfene Frage »Homosexueller oder Widerstandskämpfer?« verführt zu einer vereinfachten Alternative. Ehe nicht das Verhältnis staatsanwaltlicher und geheimdienstlicher (Gestapo) Ermittlungen intensiver untersucht ist, sind wir auf Vermutungen angewiesen.
 

Sittlichkeitsprozesse - zur historischen Einordnung

Nachdem es nicht gelungen war, durch die »Devisenprozesse« das Ansehen der katholischen Kirche wesentlich zu schmälern, bereitete die NS-Führung - besonders durch den Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels und sein Ministerium - eine neue Prozesswelle gegen katholische Ordensmänner und Priester ab Ende 1935 vor. Im Mai 1936 begannen vor ordentlichen Gerichten besonders vor dem Landgericht Koblenz, die sogenannten »Sittlichkeitsprozesse«.

Im Umgang mit Homosexualität hatten die Nazis bereits Erfahrung. Am 30. Juni 1934 hatte Hitler innerparteiliche Gegner mit dem Vorwurf der Homosexualität umbringen lassen. Im Juli 1936 stoppte Hitler die gegen die Kirche gerichteten Homosexualitätsprozesse - offensichtlich, um während der Olympischen Sommerspiele in Berlin im August 1936 vor der internationalen Öffentlichkeit ein Bild des inneren Friedens zu verbreiten. Alles änderte sich wieder, als die Enzyklika Plus' XI. »Mit brennender Sorge« (unter maßgebender Mitwirkung von Nuntius Pacelli) vom 14. März 1937 trotz aller Verbote und Beschlagnahmungen am Palmsonntag, 21. März, wohl von den meisten Kanzeln verlesen wurde. »Der Hauptteil des Sendschreibens hob die prinzipielle Unversöhnlichkeit christlicher Glaubenssätze und jenes Ersatzglaubens hervor, der Begriffe wie Blut, Volk und Rasse oder eine bestimmte Staatsform zur Norm aller Werte mache« (Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester [1971], S. 72). Zwei Wochen nach Verlesung der Enzyklika, am 6. April 1937, befahl Hitler, »die seit Juli des Vorjahres ruhenden Sittlichkeitsverfahren unverzüglich unter Zurückstellung anderer Sachen mit Nachdruck wiederaufzunehmen ...« (Hockerts, S. 73).

In diese Welle fiel dann auch die Anklage gegen P. Korbinian. Zu dieser bemerkt die Pressestelle des Erzbischöflichen Ordinariats München am 12. Mai 1997: »Weihbischof Neuhäusler (ein Mitgefangener im KZ Dachau) hat in seiner öffentlichen Erklärung im Klerusblatt Nr. 7 vom 1. April 1962 ... festgestellt, er (Roth) sei nicht wegen Widerstandes gegen Hitler in Haft genommen worden, sondern wegen betrüblicher gesetzwidriger Verfehlungen.« Direkt gegen die Fernsehdarstellung: »Weihbischof Neuhäusler hatte bereits darauf hingewiesen, daß die Verurteilung Roths wegen des Vergehens nach § 175 StGB auch auf der Grundlage handschriftlicher Briefe Roths mit eindeutigem Inhalt erfolgt sei ... Diese Briefe sind im Wortlaut in die Urteilsbegründung aufgenommen worden ... « Ein Kommentar: »Liebesbriefe an Männer.«
 

Zur ordenspolitischen Einordnung

Der Provinzial Laurentius Siemer hatte schwer unter den Devisenprozessen gelitten (vgl. WuA 10 [1995], 10). Homoerotik oder Homosexualität waren innerhalb des Ordens mit einem solchen Angstkomplex besetzt, daß »Privatfreundschaften« verhindert werden sollten. In der Verurteilung faktischer Verstöße gegen §§ 174/175 waren sich kirchliche Obere und NS-Führung einig. Bekämpft wurden kirchlicherseits unwahre Berichterstattung und propagandistische Verallgemeinerungen (Goebbels, »Das Schwarze Korps« usw.). Siemer dürfte gefürchtet haben, daß der »Fall« Korbinian Roth zu einem Angriff gegen den Dominikanerorden benutzt würde. Das Verstehen der Motivation rechtfertigt aber nicht sein Vorgehen.

Siemer rief nach seiner Rückkehr aus China Juni 1937 das Provinzkonsil zusammen und »entließ« P. Korbinian aus dem Dominikanerorden. Da mir die entsprechenden Konsilsakten nicht vorliegen, schließe ich aus der Schnelligkeit des Vorganges, daß die kirchen- und ordensrechtlichen Bedingungen des Ausschlusses eines »Flüchtigen« (vgl. CIC 1917, can. 644 § 3; 645 § 2) nicht eingehalten wurden. Jedenfalls dürfte die Ordensleitung damit den gerichtlichen Schritten gegen den Dominikaner Roth zuvorgekommen sein.
 

Flucht - Verhaftung - Konzentrationslager

P. Raymund von Sante traf Ende Mai oder Anfang Juni in der Schweiz »seinen früheren Prior wieder« (Tagebucheintrag vom 7.6.1938). Ob Raymund diesen - Korbinian Roth - damals oder später drängte, nach Deutschland zurückzukehren, um im Interesse des Ordens alles aufzuklären - wie der Raymund-Freund Hans Elsner am 20.2.1995 gegenüber Willehad P. Eckert OP behauptete -, halte ich für glaubwürdig, kann es aber noch nicht belegen. Wahrscheinlich scheint mir die Version von Weihbischof Neuhäusler (20.1.1962) zu sein, Roth sei von der Schweiz (am 5.3.1941) »ausgeliefert« worden. jedenfalls wurde er nach dem Grenzübertritt in Konstanz verhaftet und ins Strafgefängnis in Rottenburg / Neckar überführt.

Im Amtsgericht Rottenburg wurde ihm laut Aktenvermerk am 7.4.1941 »die Urteilsfertigung der grossen Strafkammer des Landgerichts Bonn vom 3.9.37 ausgehändigt«. Nach demselben Aktenvermerk verzichtete er auf eine »Wiederaufnahme des Verfahrens« und nahm die Strafe an. Über die Begleitumstände und die Motivation dieser Annahme sind nur Vermutungen möglich. Vielleicht hat die später bezeugte Bereitschaft, Buße zu tun, eine Rolle gespielt. Vielleicht sah er den Aufenthalt im Gefängnis als einen gewissen Schutz vor der Gestapo an. Nach Neuhäusler war Roth vom Zeitpunkt der Verhaftung an zwei Jahre in Haft: bis zum 5.3.1943.

Wie es oft üblich war, wurde er wahrscheinlich am Tage der Entlassung von der Gestapo übernommen, und ins KZ Dachau gebracht (andere Quellen: Gefängnis bis 20.5., in Dachau ab 21.5.).

Er betonte später, daß er nicht den rosa Winkel der Homosexuellen trug, sondern den schwarzen Winkel. Dieser hatte zunächst »Asoziale« gekennzeichnet und wurde dann auch katholischen Geistlichen (nicht nur Angehörigen von. »Bettelorden«) angeheftet. Roth betonte, in Dachau sei er der einzige katholische Priester mit »schwarzem Winkel« gewesen. Damit übereinstimmend betonte der Mithäftling Neuhäusler, die übrigen Geistlichen hätten den »roten Winkel« wegen »politischer« Vergehen getragen. Er wurde in den »Priesterblock« gebracht.

Er war - wie immer in seinem Leben - ein Zeichen des Widerspruchs. Wie er zu seinem Mithäftling, dem späteren (seit 1947) Weihbischof Neuhäusler stand, wissen wir nicht. Er war auch im engeren Sinne seelsorglich tätig (z.B. durch Vorträge) und wohl deswegen besonderen Schikanen durch die Wachmannschaften ausgesetzt.
 

Wieder im KZ

Nach der Befreiung durch die Amerikaner am 29.4.1945 bemühte er sich um die Rückkehr in die Dominikanerprovinz Teutonia. Der immer noch amtierende Provinzial Siemer lehnte ab. Roth war inzwischen in den Dienst des Erzbistums München getreten, um im Auftrag des Kardinals Faulhaber weiter in Dachau tätig sein zu können. Zunächst betreute der überlebende Krankenpfleger die noch im Lager befindlichen 7000 Schwerkranken. Aber fast sofort ergab sich eine neue Tätigkeit. Die Amerikaner internierten nun die SS-Wächter. Roth verstand sich als Seelsorger seiner ehemaligen Peiniger. Nach einer Überlieferung hat er deren Ablehnung überwunden und allmählich Vertrauen gewonnen.

Nach der SS-Seelsorge, die überwiegend bewundert wurde, wurden nach dem Ende der in Dachau stattfindenden KZ-Verbrecherprozesse in dem leer gewordenen Lager nach kurzer Renovierung Heimatvertriebene / Ostflüchtlinge untergebracht. P. Roth erkannte eine neue Aufgabe, die ihn in die aktive Kommunalpolitik führte. Er forderte auf Protestversammlungen und mit eigener Initiative Essen und bessere Wohnbedingungen. Eine mit dem Spaten in der Hand begonnene Wohnungsbauinitiative beeinflußte auch die Bayerische Landesregierung zur Finanzhilfe für eine neu gegründete »Soziale Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft«.

P. Roth verband seine Initiativen mit dem Protest gegen die wieder hochkommenden Nazis, die »Globkes, Schröders und Oberländers«, sowie gegen die damaligen und gegenwärtigen Rüstungsgewinnler. Er protestierte mit europäischem Echo, als der Landrat Junker (CSU) beschloß, KZ und Krematorium schleifen zu lassen. Er griff Lokalpolitiker und Kirchenleute an. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt in der Protestversammlung vom 18.3.1960. Sie war »gegen ein in mancher Hinsicht bedauernswertes Interview des Bürgermeisters Zauner von Dachau mit einem englischen Journalisten« (Neuhäusler, 20.1.1962) gerichtet. Das Auftreten des Kuraten Roth bezeichnete Neuhäusler als »Kurzschlußhandlung«. »In seiner Leidenschaftlichkeit schoß er weit über das Ziel hinaus, griff neben Bürgermeister Zauner auch den schon verstorbenen Stadtpfarrer von Dachau, Prälat Pfannelt an.«

In beiden Fällen richtete sich Roths Zorn gegen von der Bevölkerung als mehr oder weniger verdienstvolle Gegner des NS-Regimes geschätzte Personen, denen er selbst erschreckende Kollaboration vorwarf Dieser Ausbruch entsprang der kompromißlosen Wahrheitsliebe Roths. Er haßte nach eigenen Worten und dem Zeugnis der KZ-Kameraden Heuchlerei, Mitläufertum und Nichtsgewußt-haben-Wollen.

Was folgte? Roth selbst schrieb am 26.3.1960 an Oskar Müller, den letzten Lagerältesten des KZ: »Die Protestversammlung vom 18.3. in Dachau hat mir das Genick gebrochen. Der ganze Haß der Dachauer wendet sich gegen mich. Sie verlangten meine Abberufung von Dachau, und das Ordinariat hat dem Verlangen, weil es ebenfalls wütend auf mich ist, stattgegeben. Mit Wirkung vom 25.3. bin ich meines Postens hier enthoben.«

Weihbischof Neuhäusler in einem besorgten Brief vom 30.7.1960 an den Pfarrer von Landeck (Tirol), dem Ort der letzten Nachricht des Vermißten: »... Seine Nerven sind durch die KZ Jahre und durch den Übereifer in der Sorge um das Wohl seiner Pfarrangehörigen so überanstrengt, daß es Schwierigkeiten und Zwistigkeiten aller Art gab, so daß wir ihn von seiner Aufgabe entbinden mußten und für 3 Monate beurlaubten ... Nun sind wir in Sorge ... hat er in Verzweiflung irgend eine Untat an sich selbst verübt ... «

Man fand seine bereits in Verwesung befindliche Leiche am 15.8.1960 auf einer Bergwiese. Die Todesursache »Bergabsturz« ist die unwahrscheinlichste. Tod durch Erschöpfung oder Mord sind möglich, aber nicht durch Indizien belegt. Nach einer zweiten von Freunden geforderten Ausgrabung und Obduktion wurde im Beisein von Kriminalbeamten Gift im Körper entdeckt.
 

Quelle

aus: Wort und Antwort. Zeitschrift für Fragen des Glaubens. Hrsg. von den deutschen Dominikanern.
Themenheft "Homosexualität". 39. Jahrgang, Heft 2, April/Juni 1998, S. 88-91
Web-Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Grünewald-Verlages und der Redaktion.